Nine for 2023 – Teil Eins

 

Teil eins der Reihe „Nine for 2023“, einer Situationsanalyse mit Prognosen für 2023 und darüber hinaus

Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. So lautet ein beliebtes Bonmot, das Größen wie Karl Valentin, Mark Twain und Niels Bohr zugeschrieben wird. Das Thought Leadership Team von IQVIA hat sich dennoch der Herausforderung gestellt und mit „Nine for 2023 and beyond“ eine Situationsanalyse mit 9 Perspektiven auf Entwicklungen und Potentiale im pharmazeutischen Sektor und der Gesundheitsversorgungssysteme erarbeitet, die zentrale Herausforderungen für das noch junge Jahr – und darüber hinaus – analysiert. Darin sollen Trends, die den pharmazeutischen Markt beeinflussen werden, sowie die Implikationen, die daraus für Unternehmen und andere Gesundheitsplayer zu erkennen sind, identifiziert werden.

Dass 2023 ein Jahr transformativer Herausforderungen sein wird, erscheint unbestritten. Die Gesundheitssysteme sahen sich durch die COVID-19 Pandemie nie dagewesenen Herausforderungen gegenüber, auf die sie in außergewöhnlichen Weisen reagiert haben. Doch die Auswirkung der Pandemie ist nur eine der kausalen Kräfte, die gemeinsam einen transformativen Druck auf die Gesundheitsversorgung erzeugen werden.

Im ersten Teil dieser Reihe möchten wir drei dieser Entwicklungen vorstellen und dabei auf Herausforderungen für das globale Umfeld der Gesundheitsversorgung und was sie für die pharmazeutische Industrie bedeuten werden, fokussieren: Deglobalisierung, Gesundheitssysteme unter Druck & strategische Entwicklungsentscheidungen für die Pharmabranche:

Deglobalisierung
Die Risiken globalisierter medizinischer Versorgungsketten wurden durch die Pandemie in den Fokus gerückt. Die Konzentration pharmazeutischer Wirkstoffproduktion in Ländern wie China und Indien führte zu Sorgen, als Corona-Wellen diese Länder erreichten.

Während tatsächliche Auswirkungen für europäische und US-Märkte milder ausfielen als befürchtet, wird für 2023 dennoch eine Beschleunigung für den Trend zu Deglobalisierung erwartet, welcher sich unter anderem in folgenden Aspekten ausdrücken wird:

„Lower- and middle-income countries” (LMICs) waren durch die Pandemie in höherem Maße mit medizinischen Versorgungsproblemen konfrontiert, da finanzielle Mittel zur Sicherung desselben limitiert waren und eigene Produktionskapazitäten fehlen. Als besonderes Beispiel ist Afrika zu nennen, ein Kontinent, der zu 90 % auf medizinische Importe angewiesen ist. Dies hat bereits zu Umdenken geführt – Kenia etwa, das zu Beginn der Pandemie keine eigene Produktionsstätte für Vakzine hatte, gründete das BioVax Institute zur lokalen Impfstoffherstellung und startet in diesem Jahr mit einem massiven Investment in Produktionsstätten. Der Trend zu lokaler Produktion könnte in LMICs weiter Fahrt aufnehmen, um das gesetzte Ziel der verbesserten Versorgungssicherheit zu erreichen.

Auch in wirtschaftlich besser situierten Ländern werden Pläne zur Stärkung lokaler Produktion verfolgt. In Europa etwa soll mit der in Erarbeitung befindlichen EU-Arzneimittelstrategie die Zukunftssicherheit und Resilienz der europäischen Gesundheitsversorgung gesichert und die Abhängigkeit von Drittstaaten reduziert werden.

Regulatorische Divergenz zwischen den großen Playern trat 2022 stärker in den Fokus. China etwa hat westliche mRNA-Vakzine noch nicht zugelassen, während die FDA in den USA Studiendaten für onkologische Produkte, die nur auf China beschränkt waren, ablehnte. Die Waagschale zwischen Harmonisierung und Fragmentierung scheint sich zur Zeit in Richtung der Fragmentierung der Systeme zu senken.

Die Annahme, dass eine zunehmende Globalisierung der pharmazeutischen Industrie eine unausweichliche Entwicklung darstellt, wird 2023 auf die Probe gestellt werden.
Als Konsequenz der Preis- und Profitabilitätssituation in den USA könnten Unternehmen dazu verleitet werden, Portfolioinvestmententscheidungen mit stärkerem Fokus auf die USA zu treffen. Dies mag ökonomisch kurzfristig sinnvoll erscheinen, jedoch ist die Ausrichtung von Investments an 4% der Weltbevölkerung auf lange Sicht nicht anzuraten.

Gesundheitssysteme unter Druck
Der Warnung „things fall apart“ widmet sich die zweite Perspektive der Situationsanalyse, welche die Auswirkungen auf Gesundheitssysteme unter Druck beleuchtet.

2023 ist das Jahr, in dem sich die längerfristigen Auswirkungen der Pandemie mit Wirtschaftskrisen verbinden, um die Gesundheitssysteme auf eine noch nie dagewesene Probe zu stellen. Ungeachtet des Wohlstands eines Landes übersteigen die vielfältigen Herausforderungen – wie aufgeschobene Operationen und Behandlungen, COVID- und die Häufung anderer viraler Erkrankungswellen, Lock-Down-bedingte unterbehandelte Erkrankungen und Personalmangel aufgrund von Kündigung und Burnout – derzeit oftmals potenzielle Budgeterhöhungen und die Fähigkeit technologischer Innovationen, stabilisierend gegenzuwirken.

Die Pandemie hat die existenzielle Herausforderung für Gesundheitssysteme nicht allein verursacht. Sie hat jedoch die Probleme aufgedeckt und verstärkt sowie Effekte beschleunigt, die sich teils seit Jahren aufgebaut haben. Bedingt sind diese nicht zuletzt durch die demographische Entwicklung, die zunehmende Mulitmorbidität der Bevölkerung und das Fehlen umfassender Reformen. Angespannte Gesundheitssysteme haben weniger Zeit und Geld, um neue Produkte einzuführen, außer in Ausnahmefällen, wie z. B. Erstbehandlungen für schwere Erkrankungen.

Die Pharmaindustrie muss noch stärker auf eine neue Denkweise für diese „Permakrise“ im Gesundheitswesen setzen – eine, bei der die breiteren Bedürfnisse des Gesundheitssystems eine Schlüsselüberlegung bei der Entwicklung und Einführung von Innovation sind. Der Fokus auf die Bedürfnisse der Patienten ist natürlich beizubehalten, aber Patienten können keine Behandlungen erhalten, wenn nicht auch die Bedürfnisse der überlasteten Gesundheitssysteme, die sie versorgen, erfüllt werden. Beispiele hierfür sind Medikamente, die medizinischem Fachpersonal Zeit und Geld sparen können, Behandlungen, die außerhalb von überlasteten Krankenhauseinrichtungen durchgeführt werden können, sowie Unternehmen, die einen Patientenbetreuungsdienst zusätzlich zu einem Produkt anbieten.

Die Pharmaindustrie hat den Weg hin zu diesem Ansatz begonnen. Einige der widerstandsfähigeren Markteinführungen seit 2020 brachten solcherlei Vorteile für die Gesundheitssysteme. Diese Entwicklung muss gestärkt werden, aber nicht nur von konventionellen Pharmaunternehmen. Technologie im Gesundheitswesen kann einen zentralen Beitrag leisten, aber Geschwindigkeit wird ein zentraler Faktor dafür sein.

Herausforderung strategischer Entwicklungsentscheidungen für die Pharmabranche
Die forschende pharmazeutische Industrie steht vor großen Herausforderungen, welche kurz-, mittel- und langfristig auf dieselbe Gefahr hinauslaufen: auf die Erosion von Profiten und eine Senkung des „Return on Investment“ (RoI) aus Forschung und Entwicklung. Zugleich erfordern vergleichbare Challenges komplexe und individuell ausgerichtete Antworten.

Es ist seit geraumer Zeit beobachtbar, dass specialty care markets frühere und zahlreichere Markteintritte sehen und Marktanteile eines jeden nachfolgenden Produkts progressiv niedriger sind. Dies hat direkte Auswirkungen: während in den 1990ern die ersten 5 Produkte am Markt zumindest 10 % als Anteil am globalen Umsatz des jeweiligen Therapiegebietes erwarten konnten, können dies aktuell nur noch die ersten 3, und die Unterschiede zwischen „first to market“ und Nachfolgern sind gestiegen. Gleichzeitig sind Aufwendungen für Forschung und Entwicklung großer Unternehmen seit 2016 um 44 % gewachen. Diese langfristige RoI-Challenge hat sich seit 2020 verschärft, wo – ausgenommen natürlich Covid-Vakzine und Therapien – Neueinführungen, bedingt durch neue oder verstärkte Herausforderungen im Zuge der Pandemie – deutlich schlechter performen als ihre Vorgänger.

Klassische strategische Analysen würden 3 Optionen als Reaktion auf die RoI-Herausforderung vorschlagen: Kosten senken, neue Märkte erschließen oder das Portfolio verändern. In der aktuellen Situation kann jedoch den ersten beiden Optionen realistischer Weise nur eingeschränktes Potential attestiert werden: Forschungskosten steigen konstant aufgrund von Konkurrenz-, technologischem oder systemischen Druck. Andere Kosten befinden sich in fortlaufenden Optimierungsprozessen, können jedoch nicht auf einen Wert reduziert werden, der das RoI substanziell beeinflusst. Im Bereich neuer Märkte sprechen die Zahlen ebenfalls eine klare Sprache: über 90 % der ersten 5-Jahres-Umsätze stammen aus den 8 führenden Märkten, während kein Land außerhalb dieser Gruppe von 8 für mehr als 4 % der globalen Arzneimittelausgaben steht.

Während daher beide Ansatzpunkte natürlich weiteren Optimierungsprozessen unterworfen werden müssen, scheint als einzige Option mit substanziellen mittelfristigen Potential aktives Portfoliomanagement zu sein. Die Entwicklungsentscheidungen, inklusive der Merge- & Acquisition-Tätigkeiten, der großen Pharmaunternehmen in diesem Bereich, werden 2023 und darüber hinaus daher besonders große Resonanz besitzen. Insbesondere Akquisitionen werden der Schlüssel zur Beeinflussung des Umfangs und der Geschwindigkeit notwendiger Portfolio-Transformationen sein und damit nach den eher unauffälligen Jahren 2021 & 2022 wieder an Bedeutung gewinnen.

Teil 2 dieser Reihe wird im kommenden Newsletter erscheinen und sich mit 3 Bereichen von Wachstum und Chancen für innovative Unternehmen beschäftigen.

 

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Bernhard Hattinger

IQVIA Marktforschung GmbH
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